Mathias Binswanger

Mathias Binswanger

Der Wachstumszwang — Warum die Volkswirtschaft immer weiterwachsen muss, selbst wenn wir genug haben

Seit Beginn der ersten industriellen Revolution Ende des 18. Jahrhunderts in England ist Wirtschaftswachstum nach und nach in fast allen Ländern dieser Erde zu einem Dauerzustand geworden. Ein Wachstum des Bruttoinlandprodukts gilt als Anzeichen einer funktionierenden Wirtschaft, während ein Ausbleiben von Wachstum als pathologische Störung empfunden wird. Schon ein Jahr ohne Wachstum führt zu grosser Nervosität in Politik und Wirtschaft, und man versucht alle Hebel in Gang zu setzen, um wieder zum Wachstum zurückzukehren. Doch warum sind die nach der industriellen Revolution entstandenen kapitalistischen Wirtschaften dermassen auf Wachstum fixiert?
Dafür gibt es tatsächlich einen Grund. Wächst die Wirtschaft, kann eine Mehrheit der Unternehmen Gewinne erwirtschaften und ist somit wirtschaftlich erfolgreich. Bleibt das Wachstum jedoch über mehrere Jahre aus, dann machen immer mehr Unternehmen Verluste und verschwinden vom Markt. Auf diese Weise gerät die Wirtschaft in eine Abwärtsspirale mit steigenden Verlusten, sinkender Nachfrage und steigender Arbeitslosigkeit, aus der man nur mit Wachstum wieder herauskommt. Es gibt somit zwei Alternativen: Wachstum oder Schrumpfung.
Zu einer Schrumpfung kommt es aber im Normalfall nicht, weil Unternehmen aus eigenem Interesse stets möglichst hohe Gewinne erzielen wollen, was sich wiederum nur mit ständigen Investitionen in neues und besseres Kapital erreichen lässt. Deshalb wurde der Wachstumszwang, obwohl er seit der Entstehung kapitalistischer Wirtschaften im 19. Jahrhundert existiert, kaum als solcher wahrgenommen. Man sah vor allem den Wunsch nach Verbesserung der Lebensbedingungen und nach mehr materiellem Wohlstand. Doch heute werden sich die Menschen in hochentwickelten Ländern zunehmend bewusst, dass Wirtschaftswachstum zwar das Versprechen von steigendem materiellem Wohlstand eingelöst hat, aber trotzdem wesentliche Bedürfnisse unerfüllt bleiben. Die Menschen werden mit noch mehr materiellem Wohlstand nicht mehr glücklicher oder zufriedener. Und wir sehen auch, dass Wirtschaftswachstum die Umwelt belastet. Doch andererseits leben wir in einer Wirtschaft, die ohne Wachstum nicht funktioniert. Das ist ein Dilemma, für welches es keine einfache Lösung gibt.